AUF DEM SCHLITTEN DURCH LAPPLAND

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Nichts als Weiß. Wer davon geblendet wird, dem versinkt die Welt im Nichts. Foto: Hans-Jörg Ottinger

 

Hunde, wollt ihr ewig rennen?

Laufwütige Huskys jagen über Schnee und Eis – 350 Kilometer in vier Tagen. Ein Härtetest, bei dem Mensch und Tier sich näher kommen. Zwei Deutsche machten bis zur Erschöpfung mit.

roterpunktIRIS HAMMELMANN, SIGNALDALEN

„Team number two – go!“ Christa, Jörg und Tommy reißen die Stahlanker aus der vereisten Wiese. Mit einem Ruck setzen sich ihre drei hölzernen Schlitten in Bewegung. Startpunkt ist das norwegische Signaldalen nördlich des Polarkreises. 350 Kilometer liegen vor den drei Gespannen, die ein Team bilden. Zwölf Teams mit 192 Hunden insgesamt. 350 Kilometer geht es zwischen eng stehenden Birken und Kiefern hindurch, über zugefrorene Seen hinweg und über die Fjälls, jene kargen Gebirge, die Norwegen, Finnland und Schweden verbinden.

Die 16 Alaska-Huskys von Team zwei beschleunigen mit triefenden Zungen leichtpfotig auf 35 Stundenkilometer. Alle sind sie Profis im Hundeschlittensport. Der 28-jährige Norweger Tommy, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, ist Anführer und ein erfahrener Musher; so heißen Schlittenführer im Fachjargon. Christa und Jörg dagegen haben noch nie auf den Kufen einer Pulka gestanden. Pulka – so nennen die Samen, die Ureinwohner dieser Region, den Schlitten. Doch genau dieser Mangel an Erfahrung ist zwingende Voraussetzung, um am Fjällräven Polar Race teilzunehmen, dem einzigen Rennen weltweit, das Amateure unter Profibedingungen in den Schnee schickt.


Der Trail beginnt knifflig: neun Prozent Steigung, Rechts- und Linkskurven in raschem Wechsel. Der Pfad fällt schräg zur Seite ab, die Schlitten kippen bedenklich. Beladen mit Zelt, Isomatte, Schlafsack, Verpflegung, Schneeschuhen und Kochgeschirr, bringen sie je vierzig Kilo auf die Waage. Zwar hat Christa begriffen, dass sie ihr Gefährt durch Gewichtsverlagerung auf den Kufen lenken kann. Mit ihren 67 Kilo taugt sie allerdings nicht als Gegengewicht zu der von Hunde- und Fliehkraft um die Kurven geschleuderten Masse. Und schon strauchelt sie!

Unbeirrt wollen Grace, Crisby, Nordia, Snöwit und Charly weiter. Die Hunde zerren am Gespann, der liegende Schlitten türmt in wenigen Sekunden einen kleinen Schneeberg vor sich auf. Ein Hindernis, das selbst für fünf laufwütige Vierbeiner zum Hemmnis wird. Zwei Zuschauer, die auf die Teams warten und Zeugen des sportlichen Spektakels werden, richten Christas Pulka auf. Noch bevor beide Kufen Bodenkontakt haben, jagen die Huskys los. Ob die Schlittenlenkerin sicher an Bord ist, interessiert sie nicht im Mindesten.

Jörg kämpft unterdessen mit ganz anderen Schwierigkeiten. Er ist 1,92 Meter groß und 96 Kilo schwer. Zu viel für seine Tiere. Snörre, Igur, Dana, Hussy und Puck werden immer langsamer, wenden sich nach ihm um. „Hilf uns!“, scheint ihr Blick aus blauen und braunen Augen zu sagen. Zwar sind Schlittenhunde energiegeladene Rennmaschinen, aber sie sind auch faul. Und eigensinnig. Rennen ja, Lasten ziehen nicht so gern. Notgedrungen läuft Jörg fast die komplette erste Etappe von 25 Kilometern hinter seinem Schlitten her und schiebt. Oder er „kickt“, steht also mit einem Fuß auf einer Kufe und stößt sich mit dem anderen vom Boden ab.
Christa stürzt weitere viermal und nimmt gar nicht wahr, dass sie und ihre Kollegen längst die Grenze nach Schweden passiert haben. Dann erreicht das Dreierteam das Plateau von Pältsa und damit den ersten Checkpoint.


Keine Zeit zum Kochen
Die Mägen der Jung-Schlittenführer knurren mit den Hunden um die Wette. Ein Königreich für einen dampfenden Eintopf! Doch hier gibt es nichts außer Krüppelbirken, Hügeln und dem unendlichen Weiß des Schnees. Zum Kochen bleibt keine Zeit, denn schon kommandiert Tommy: „Jörg, du holst den Futtersack und Wasser! Christa, du hilfst beim Vorbereiten des Kochers!“ Sein Ton verbietet jegliche Gegenwehr.

Die beiden Rookies, wie Anfänger des rasanten eisigen Sports genannt werden, kuschen. Obwohl Jörg im beruflichen Leben als leitender Schwimmmeister 23 Mitarbeiter unter sich hat. Obwohl Christa, Autorin für naturheilkundliche Ratgeber, selbstständiges Arbeiten gewohnt ist. Beide wissen: Hier draußen sind sie Nichtskönner und auf den versierten Norweger mit dem jungenhaften Gesicht angewiesen.
Jörg stapft also 200 Meter durch den Harsch und zerrt den zwanzig Kilo schweren Futtersack herbei. Dann retour und den Eimer mit zehn Litern Wasser herangeschleppt. Bei jedem Schritt bricht er knietief ein und muss die Füße bis auf Oberschenkelhöhe aus dem krustigen Weiß ziehen, um voranzukommen. Eine schwer erträgliche Belastung für die Muskulatur, die ohnehin schon brummt wie eine Waschmaschine im Schleudergang.

Das zu armdicken Würsten gepresste gefrorene Rind- und Putenfleisch muss in Scheiben geschnitten werden, damit es im heißen Wasser schneller auftaut. Christa kann die Klinge ihres Taschenmessers kaum in die steinharte Masse treiben. Einen Augenblick flackert ein Gedanke in ihr auf: „Wenn ich mir jetzt in die Hand schneide, darf ich aussteigen!“

Sie tut’s nicht, sägt unerbittlich weiter. Obwohl die Finger in den dünnen Stoffhandschuhen, die extra für diese schmierige Arbeit bestimmt sind, schon nach zehn Sekunden vor Kälte ihre Beweglichkeit eingebüßt haben. Fleisch, Trockenfutter und Wasser werden zu einem Mus gestampft. Der Mix wird in Blechnäpfe gefüllt, denen sich 16 Hundeschnauzen begierig entgegenrecken.
Während die Huskys heißhungrig fressen, beginnen Jörg und Christa zu zweifeln: War es richtig, den kommoden Bürostuhl gegen den schlingernden Schlitten und die 35 Grad Celsius warme Schwimmhalle gegen das ewige Eis zu tauschen?
Beworben haben sich die beiden, um ihr Leben um ein Wagnis zu bereichern. Statt der Sicherheit und des Komforts ihrer Wohnungen wollten sie Natur, Abenteuer und das einfache Leben spüren – fort von der Ostseeküste nördlich von Lübeck, hin nach den Nordkalotten, der letzten Wildnis Europas. Hatten sich darauf gefreut, lautlos durch ein glitzerndes Winterwunderland zu gleiten und mit anhänglichen Fellknäueln zu schmusen. Und anstrengend würde es auch werden, das war ihnen klar. Auf solche Schinderei aber waren sie nicht gefasst!


Tommy drängt: Weiter geht’s!
Schon drängt Tommy die wehleidigen Schneefahrer auf die Piste: „Packt den Kocher und die Näpfe in die Schlitten! Es geht weiter.“ Die zweite Tagesetappe windet sich 35 Kilometer hinunter ins Tal von Keinovuopio. Diesmal führt der Trail die Gruppe durch dichte Birkenwälder und steil bergab. Die Gespanne rasen unaufhaltsam wie Autos, bei denen sich das Gaspedal verklemmt hat, erreichen bis zu vierzig Stundenkilometer.

Die Lead Dogs, die Leithunde Snörre und Grace, die die vierpfotigen Kollegen der Rookies anführen, jagen hinter Tommys Schlitten her. Es scheint ihnen Spaß zu machen, möglichst dicht an Baumstämmen und Findlingen vorbeizusausen. Christa und Jörg klammern sich an den hochgezogenen Holzbügeln ihrer Pulkas fest. Immer wieder ducken sie sich blitzschnell unter niedrigen Zweigen hindurch. Der Fahrtwind bläst eisig, Schnee stiebt zwischen den Kufen empor. Die Dunkelheit senkt sich auf das Team herab.
Ankunft am zweiten Checkpoint, wo das Nachtlager aufgeschlagen wird. Die Hunde müssen ausgeschirrt und zu ihrem Schlafplatz gebracht werden. Gehorsam traben sie neben Christa und Jörg her. Bis auf Snörre, der noch immer wie ein Gummiball auf allen vier Pfoten gleichzeitig in die Luft springt. Nordia trampelt sich sofort eine kleine Kuhle in den Schnee und kuschelt sich ein.


Mensch und Tier kommen sich näher. „Flink, Grace! Flink, Igur!“, loben die beiden Rookies, wie Tommy es ihnen beigebracht hat. Das heißt: Gut gemacht, Jungs und Mädels! Das Fütterungsritual wiederholt sich, diesmal im spärlichen Schein der Kopflampen, denn mittlerweile ist es stockfinster. Abends um zehn stampfen Christa und Jörg mit ihren derben Stiefeln den Schnee auf sechs Quadratmetern platt und können endlich ihr Zelt aufstellen. Danach schmelzen sie Schnee auf dem Gaskocher und rühren Chili con Carne aus der Tüte hinein. Das Wasser hat nur für die Hunde gereicht. Und die haben Vorrang. Immer.

Erschöpft und mit schmerzenden Knochen, wie nach einem Marathonlauf, schlüpfen die Abenteurer in ihre Schlafsäcke. Mit Joggen und Radfahren haben sie sich auf das Polar Race vorbereitet. Geholfen hat es ihnen nicht.
Die nächsten drei Tage werden nicht einfacher, im Gegenteil. Nach durchschnittlich fünf Stunden Schlaf bei selten mehr als minus zehn Grad Celsius, unterbrochen vom Geheul der Schlittenhunde, beginnt jeder Morgen ohne Frühstück, dafür mit hart gefrorenen Schuhen, einem drängelnden Tommy und ausgeschlafenen Huskys, die nur eins im Kopf haben: rennen!

Die Etappen werden länger, doch immerhin können Christa und Jörg nun etwas besser mit ihren Schlitten umgehen. Außerdem haben sie gelernt: Die Huskys sind die wahren Athleten dieses Rennens und müssen auch so behandelt werden. Streicheleinheiten, kleine Rindswurst-Extrasnacks und Stoffsöckchen zum Schutz vor dem scharfkantigen Eis der zugefrorenen Seen inklusive. Ohne die menschenfreundlichen Geschöpfe wären die beiden Deutschen in der weißen Weite verloren.

Gemeinsam meistern sie die Herausforderung und gehen nach 21 Stunden und 37 Minuten reiner Rennzeit im schwedischen Jukkasjärvi als sechstes von zwölf Teams über die Ziellinie.
Vier Tage lang haben sie weder geduscht noch die Wäsche gewechselt. Für einen Musher ganz normal. Oder, wie Tommy es ausdrückt: „Wenn du mit Hunden leben willst, musst du wie ein Hund leben!“ Jetzt freuen sich die beiden Deutschen auf warmes Wasser, Seife und ein weiches Bett. Trotzdem kommt beim Abschied von den Hunden Melancholie auf. Die Huskys machen es ihnen wirklich nicht leicht: Snörre leckt inbrünstig Jörgs Hände, und Nordia ringelt sich auf Christas Schoß.
Beim feierlichen Abschlussessen im Hotel ist klar: Der Schwimmmeister und die Autorin haben sich verändert. So oft es geht, wollen sie künftig die verbrauchte Atmosphäre Mitteleuropas gegen klare Polarluft tauschen und manche dröhnende menschliche Stimme gegen Hundegeheul. Sie sind jetzt richtige Musher. Und die gehören zu ihren Hunden.


Kampf der Bürohengste
Vor zehn Jahren schleppte Kenth Fjellborg, der ein Jahr zuvor als zweitbester Rookie das berühmte Iditarod-Rennen gefahren war, seinen Freund Ake Nordin nach Alaska. Ake ist Gründer der Firma Fjällräven. Nun sollte er hautnah erfahren, was es heißt, ein Musher zu sein, ein Hundeschlittenführer. Wenige Wochen darauf wurde die Idee von „Polar“ geboren, einem Hundeschlittenrennen, das Männern wie Frauen „von nebenan“ die Möglichkeit gibt, ihre körperlichen und geistigen Grenzen zu erproben. 1997 wurde dieser Traum wahr – in Sapmi, dem Land der Sami, der Ureinwohner Skandinaviens. Ake Nordin war damals begeistert, wie sich Bürohengste und Schreibtischmäuse durch Schneesturm und Schmerzattacken kämpften. Das Rennen wurde zum Sportspektakel für jedermann und feiert vom 2. bis 6.April 2006 sein zehnjähriges Bestehen. Diesmal werden sich je zwölf Frauen und Männer der Herausforderung stellen. Wer auch einmal das Abenteuer seines Lebens bestehen will, der vertiefe sich in die Bewerbungskriterien: www.fjallraven.se/polar

 

© Rheinischer Merkur Nr. 1, 05.01.2006

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